Am 26. September 2014 wurden Studierende der pädagogischen Fachschule von Ayotzinapa im mexikanischen Bundesstaat Guerrero nach einer Protestaktion in der Stadt Iguala von der Polizei angegriffen. Dabei wurden 3 Studenten ermordet (ein Student wurde gehäutet, einem rissen sie die Augäpfel aus) und 3 unbeteiligte Personen von der lokalen Polizei erschossen und 43 verschleppt und im benachbarten Bezirk Cocula der dortigen Polizei übergeben, welche ihrerseits die Studenten der Mafiagruppe Guerreros Unidos aushändigte. Diese brachte die 43 hoch in die Berge, wo sie bei lebendigem Leibe auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurden, welcher 15 Stunden gebrannt haben soll (bis heute konnte erst eine Person identifiziert werden). Als Drahtzieher des Verbrechens präsentierte die mexikanische Regierung das Bürgermeister Ehepaar von Iguala. Zweifel an dieser offizielle Geschichtsschreibung werden durch die angesehene mexikanische Wochenzeitung “Proceso” verstärkt. Diese berichtete am 13. Dezember in ihrer Titelgeschichte unter anderem unter Berufung auf Videomaterial und offizielle Dokumente, dass die Attacke vom 26. September auf die studentischen Lehramtswärter von Ayotzinapa in wesentlichen Teilen “von der Bundespolizei orchestriert und ausgeführt wurde – mit der Komplizenschaft oder offenen Mitarbeit der Armee“. Skeptiker hatten von Anfang an ihre Zweifel geäussert: Weder die in Iguala stationierten Streitkräfte noch die nahe Bundespolizei waren eingeschritten, als die Studenten angegriffen und in den Nachbarlandkreis Cocula verschleppt wurden. Die oft angeführte Unterscheidung zwischen “böser“ Ortspolizei, die die mexikanische Regierung in ihrer bestehenden Form auflösen will, und “guter“ Bundespolizei scheint nicht haltbar. Die 49 Personen sind bei weitem nicht die einzigen Opfer. Die systematische Gewalt gegen die mexikanische Bevölkerung ist aktuell einer der blutigsten Konflikte weltweit: Seit dem Beginn des vom damaligen Präsidenten Calderón ausgerufenen “Kriegs gegen die Drogen“, welcher den zuvor territorialen Konflikt in ein offenes kriegerisches Szenario verwandelte, zählen unabhängige Quellen mehr als 100000 Tote und 20000-30000 Verschwundene – Ein grosser Teil davon Zivilisten. Kaum ein Täter wurde je gefasst oder verurteilt. Denn der Staat kämpft nur vorgeblich gegen die Kartelle. Politik und Drogenmafia sind eng verbunden. Es geht dabei um die Kontrolle des Landes, um den anhaltende Ausverkauf von Mexikos Naturreichtümern und die Ausplünderung des Landes voran zu treiben, sowie um die Einschüchterung und Kontrolle der armen Bevölkerung. Während die mexikanische Regierung voller Arroganz und Herzlosigkeit ihre üblichen Floskeln und Lügen verbreitet, war das Massaker für viele MexikanerInnen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Seit Wochen protestieren überall in Mexiko Menschen gegen die verantwortlichen PolitikerInnen und die allgegenwärtige Zusammenarbeit von Staat und Drogenkartellen. Sie fordern den Rücktritt der Regierung und ein Ende der institutionalisierten Straflosigkeit – vorallem für die in Amt und Uniform verübten Verbrechen.
“In diesem Reich der Straflosigkeit gibt es Morde ohne Mörder, Folter ohne Folterer und sexuelle Gewalt ohne Vergewaltiger.”
Urteil des Ständigen Tribunals der Völker
In bestimmten Fällen gehen die mexikanischen Behörden jedoch übergründlich vor, so etwa bei der Kriminalisierung von sozialen Protesten wie nachfolgende Ereignisse schonungslos aufzeigen: Am 20 November 2014 fand anlässlich eines landesweiten Streiks für die 43 Verschwundenen eine Demonstration mit 100000 Menschen statt bei der es gegen Ende der Manifestation zu Ausschreitungen kam. Antiterroreinheiten der Polizei verhafteten willkürlich mehrere Demonstrierende. 11 Personen wurde versuchter Mord, Aufruhr, organisierte Kriminalität und anfänglich auch Terrorismus vorgeworfen. Sie bestritten die Vorwürfe und legten bei der Nationalen Menschenrechtskommission Beschwerde ein. Nach zwei Tagen in Hochsicherheitsgefängnissen wurden alle elf Personen wieder frei gelassen da zu wenige Beweise für eine Anklage vorlagen. Die Straflosigkeit, die bis in die höchsten Sphären politischer und ökonomischer Macht hinein herrscht, bedeutet eine Politik des Todes, in der die Profitmaximierung, egal ob durch legalen oder illegalen Handel, längst Vorrang vor menschlichem Leben bekommen hat. Was sich in Mexiko abspielt ist weder eine regionale noch eine nationale Tragödie, sondern Ausdruck eines globalen Krieges gegen alle, die auf gesellschaftliche Missstände und Ungerechtigkeiten hinweisen und diese aktiv bekämpfen. Das Massaker in Ayotzinapa zeigt auf, dass der “Krieg gegen die Drogen” auch ein schmutziger Krieg gegen Oppositionelle ist und der Staat paramilitärische Strukturen gezielt einsetzt. Es zeugt aber auch von einem verherrendem Kontrollverlust der staatlichen Zentralgewalt. Mexiko ist jedoch kein “gescheiterter Staat”, wie mitunter in vermeintlich kritischer Absicht analysiert wird, sondern ein autoritärer Staat, der sich seit Beginn des “Krieges gegen die Drogen” massiv außergesetzlicher Gewalt bedient, um seine Legitimitätsdefizite aufzufangen und die außerparlamentarische Opposition zu kontrollieren und ein Klima der Angst aufrecht zu erhalten. Zusammen mit gezielter Repression erleichtert es die soziale und politische Kontrolle und soll den Widerstand gegen die Privatisierung im Erdöl- und Gassektor sowie gegen grosse Minenprojekte im Vorhinein ersticken.
“Es terrible y maravilloso que los pobres que aspiran a ser maestros se hayan convertido en los mejores profesores, con la fuerza de su dolor convertido en rabia digna, para que México y el mundo despierten y pregunten y cuestionen.” “Es ist schrecklich und wunderbar zugleich, dass die Armen, die Lehrer werden wollten, zu den besten aller Lehrer geworden sind, indem sie ihren Schmerz in würdige Wut gewandelt haben, damit Mexiko und die Welt erwachen, fragen und hinterfragen.”
Subcommandante Insurgente Moises, EZLN
Lucha y Fiesta, Januar 2015
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