43 Verschwundene - 43 Geschichten



Es ist heute fünf Jahre her seit den schrecklichen Ereignissen von Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Damals wurden sechs Menschen erschossen, 40 Menschen schwer verletzt und 43 Studenten der Lehramtsuniversität von Ayotzinapa vom mexikanischen Staat verschleppt – sie sind bis heute verschwunden. Emblematisch für die Strafheit in Mexiko wurde bisher keine Person für die Verbrechen verurteilt. Im vergangenen Monat wurden zahlreiche inhaftierte mutmassliche Täter und Hintermänner freigelassen, darunter Gildardo López Astudillo alias “El Gil” und 24 involvierte Polizisten. Damit sind schon 77 von insgesamt 142 mutmasslichen Tätern wieder aus der Haft entlassen worden und es gibt wenig Grund an zu nehmen, dass in den kommenden Wochen nicht weitere folgen werden.

Regierung Peña Nieto

Von allem Anfang an waren die offiziellen Ermittlungen zum Fall Ayotzinapa gekennzeichnet von Unregelmässigkeiten, Widersprüchen, Falschinformationen und offensichtlicher Behinderung. So wurden Daten von Überwachungskameras kurzerhand von offizieller Seite vernichtet, Beweise manipuliert, falsche Untersuchungsergebnisse veröffentlicht und Ermittlungen in gewisse Richtungen unterbunden.  Die mexikanische Regierung unter Präsident Peña Nieto zeigte keinen Willen zur lückenlosen Aufklärung des Verbrechens und war nur daran interessiert den Fall zu einem schnellen Abschluss zu bringen und die wahren Hintergründe im Verborgenen zu lassen.

Unabhängige Ermittlungsorgane

Unabhängige Ermittlungsergebnisse, die nichts ins Bild der Regierung passen, wurden unterschlagen: Eine interdisziplinäre, unabhängige Expertengruppe (GIEI – Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) hatte 2015 sechs Monate lang die bisherigen Ermittlungen zu den Verbrechen, die Suche nach den Verschwundenen und die Betreuung der betroffenen Familienangehörigen ausgewertet, zusätzliche Gespräche mit Mitarbeitern staatlicher Institutionen, Betroffenen und Zeugen geführt und international renommierte Sachverständige zu Rate gezogen.
2017 hatte Forensic Architecture offen zugängliche Quellen ausgewertet und visualisiert. Die Ergebnisse wurden auf einer interaktiven, digitalen Plattform im Internet veröffentlicht. Die interaktiven Karten bieten eine digitale Rekonstruktion der Tatnacht: Geodaten, Fotos, Video aufbereitet als 3-D Modell. Das Projekt macht die komplexen Abläufe und Zusammenhänge sichtbar und nachvollziehbar. Auch diese aufwändig realisierte forensische Untersuchung wurde durch die offiziellen Untersuchungsbehörden nicht berücksichtigt. Die von der Regierung vorgelegte Version der Ereignisse, die «historische Wahrheit, wird von der  GIEI sowie dem Argentinischen Forensikerteams (EAAF) nach den von ihnen zusammengetragenen wissenschaftlichen Erkenntnissen als unmöglich abgelehnt. Die Regierung beharrt auf ihrer Version, die Studenten seien noch in der Tatnacht von Killern der “Guerreros Unidos” getötet und anschliessend auf einer Müllhalde in Cocula, einem Nachbarort von Iguala verbrannt worden. Aussagen und Geständnisse, welche die offizielle Version der Regierung belegen sollen, wurden unter Folter erwirkt.

Narcos und Militärs

Seit 2016 verdichten sich Hinweise, dass in zwei der Busse, mit welchen die Studierenden in der Tatnacht unterwegs gewesen waren, eine grössere Heroinladung Richtung USA transportiert werden sollte. Mexiko – und vor allem der Bundesstaat Guerrero, wo Iguala liegt – gilt als weltweit drittgrösster Heroinproduzent. Im gleichen Jahr wurde bekannt, dass die Guerreros Unidos von Drogenhändlern in den USA die Anweisung erhalten haben sollen, zusammen mit Polizeieinheiten gegen die Studenten vorzugehen und die Ladung mit einem geschätzten Wert von 2 Millionen USD sicher zu stellen. In ihrem Buch  “Die wahre Nacht von Iguala” (“La verdadera noche de Iguala”) legt die investigative Journalistin Anabel Hernández Erkenntnisse vor wonach der Armee entscheidende Tatbeteiligung zukam. Genäss ihren Recherchen waren es die Streitkräfte, die die Abläufe jener schrecklichen Nacht von Iguala organisierten und orchestrierten: Den Angriff lokaler Polizeikräfte, Bundespolizei und Soldaten des 27. Bataillons auf die Busse der Studierenden. Der lokale Drogenboss in Iguala habe den Militärs befohlen, das Rauschgift sicherzustellen. Die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto weist eine Beteiligung des Militärs an dem Verbrechen zurück und unterbindet unter Hinweis auf die Nationale Sicherheit jegliche Untersuchung in diese Richtung.

Regierung Lopez Obrador (AMLO)

Auf seiner ersten Pressekonferenz am 3. Dezember 2018 ordnete Mexikos neuer Präsident López Obrador per Dekret die Schaffung einer Wahrheitskommission an, um den Verbleib der 43 Studenten von Ayotzinapa aufzuklären. Diese Kommission ermöglicht den Angehörigen der Verschwundenen eine direkte Beteiligung in den Ermittlungen. Die Wahrheitskommission vereinbarte im Januar 2019 den Aufbau einer Sonderstaatsanwaltschaft in Ayotzinapa. Der Sonderstaatsanwaltschaft gehören neben Beamten auch Angehörige der verschwundenen Studenten sowie Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Menschenrechtsaktivisten an. Alle 2 Monate trifft sich der Präsident mit den Angehörigen der Verschwundenen, um die aktuellen Entwicklungen zu behandeln. Weiter wurden interne Ermittlungen angeordnet, um Unregelmässigkeiten und Behinderungen in den offiziellen Ermittlungsorganen während der Regierung Peña Nieto zu untersuchen und zu ahnden.
Alle diese Massnahmen bezeugen den Willen der neuen Regierung den Fall Ayotzinapa vor an zu treiben und die Versäumnisse der Vorgängerregierung zu korrigieren. Und sie sind ein hoffnungsvolles Zeichen an alle, die sich in Mexiko für soziale Gerechtigkeit einsetzen.

Der tragische Fall Ayotzinapa steht sinnbildlich für eine Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens von unliebsamen Menschen in Mexiko. Die Nacht von Iguala gab dem Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens 43 Gesichter – stellvertretend für Zehntausende: 47’000 Menschen sind in Mexiko offiziell als verschwunden registriert, wovon es gemäss Regierungsangaben seit 2001 nur in 10 Fällen zu Verurteilungen gekommen ist. Seit Beginn des “Kriegs gegen die Drogen” im Jahr 2006 sind in Mexiko mehr als 40’000 Menschen verschwunden – die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Die lückenlose Aufklärung des Falles Ayotzinapa und die Bestrafung sämtlicher involvierter Personen, Gruppen und Intitutionen ist ein notwendiger und wichtiger erster Schritt für Gerechtigkeit und Wahrheit. Sie muss der Beginn einer Entwicklung sein, die den über 40’000 gewaltsam Verschwundenen in Mexiko und ihren Familienangehörigen Wahrheit, Gerechtigkeit, umfassende Wiedergutmachung und Gewissheit bringt, dass sich die Nacht von Iguala nie wiederholen wird.

Lucha y Fiesta, September 2019